Mein toter Vater – zum Gedenken an den 9. November

Ich heiße Inge Strauß und ich besuchte die Maria-Wächtler-Schule. Das war ein Lyzeum für evangelische Mädchen. Natürlich nur für höhere Töchter, also Kinder aus gutem Haus. Mein Vater Benno war Physiker und ziemlich berühmt, weil er rostfreien Stahl erfunden hat. Die Spitze vom Empire-State-Building zum Beispiel ist aus dem Stahl meines Papas. Er arbeitete bei Krupp und leitete dort seit 1899 die physikalische Abteilung. Seit 1924 führte er sogar alle Prüfinstitute der Kruppwerke. Die Weltwirtschaftskrise von 1928 war für uns zwar auch schlimm, aber nicht so schlimm wie für die meisten Deutschen. Sorgen hat sich Papa aber immer gemacht, weil er meinte, dass die Radikalen zu laut werden.

Als 1933 dann die NSDAP die stärkste Partei im Reichstag wurde und Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, war vor allem mein Großvater voller Sorge. Opa Nathan ist Jude, muss man wissen. Papa hat sich 1917 taufen lassen. Er meinte, dass es schon nicht so schlimm werden wird.

Aber dann kam Papa eines Tages im Januar 1935 völlig niedergeschlagen von der Arbeit. Die Firma Krupp hatte ihm gekündigt. Einfach so. Weil er Jude war. Ich verstand das nicht, weil wir doch eigentlich evangelisch waren. Aber im Denken der Nazis spielte das keine Rolle. Weil Opa Nathan Jude war, war Papa auch Jude und ich war jetzt auf einmal Halbjüdin. Halbjüdin an der evangelischen Maria-Wächtler-Schule.

Viele Mädchen aus meiner Klasse waren im BDM, das war die Mädchenorganisation der NSDAP. Ich durfte da nicht hin. Wegen meiner „Abstammung“. Aber ich wollte das auch nicht. Auf dem Foto seht ihr mich in normalen Anziehsachen. Ich stehe in der hinteren Reihe, die vorletzte von rechts. Die mit dem weißen Kleid. Ganz viele Mitschülerinnen seht ihr mit weißer Bluse und blauem, gebundenem Tuch. Das war ihre BDM-Uniform. Die zogen sie auch in der Schule an. Viele Lehrer waren selbst in der NSDAP und fanden das mit der BDM-Uniform in der Schule gut.

Am 9. November 1938 passierte dann etwas ganz Schreckliches: viele Juden wurden angegriffen. Geschäfte, deren Inhaber Juden waren, wurden geplündert, die Schaufenster zerschlagen. Wir hatten zwar nichts mit der jüdischen Gemeinde zu tun, aber ich war trotzdem völlig entsetzt, als ich hörte, dass die schöne Synagoge in der Stadt angezündet worden war. Ganz viele Essener standen dabei und schauten zu. Die Feuerwehr kam. Aber sie löschte nicht! Im Gegenteil: die Männer der Feuerwehr schlugen noch die Fenster der Synagoge ein, damit das Feuer so richtig groß wurde. Dann schauten sie nur, dass die Flammen nicht übergriffen. Ich durfte nicht aus dem Haus, weil mein Papa Angst um mich hatte. Wir wohnten damals in der Alfredstraße in Bredeney, in einer sehr schönen Villa. Und plötzlich standen sie an diesem 9. November 1938 bei uns in der Tür: Männer von der Gestapo. Sie packten Papa und nahmen ihn mit. Einfach so. Er hatte nichts gemacht, aber sie nahmen ihn für eine Woche in „Schutzhaft“. Als er dann Mitte November 1938 wieder rauskam, war alles anders. Das ganze Geld unserer Familie war weg. Es wurde „eingezogen“, weil Juden nicht so viel Geld haben sollten.

1941 nahmen mich meine Eltern dann von der Maria-Wächtler-Schule. Es ging einfach nicht mehr. Ich dachte, es könnte nicht mehr schlimmer werden. Aber es wurde noch schlimmer: im September 1944 sollte Papa dann in das KZ Theresienstadt deportiert werden. Mein Papa! Der Erfinder des nichtrostenden Stahls. Mein Papa, der sich immer um uns alle gekümmert hatte und jetzt konnten wir nichts für ihn tun. Er kam nicht in Theresienstadt an. Er starb im Arbeitslager Lenne bei Vorwohle, sie sagten an einer Lungenentzündung.

Heute könnt ihr einen Stolperstein vor unserem Haus in der Alfredstraße 289 sehen. Oder ihr könnt auf der Benno-Strauß-Straße spazieren gehen. Nach meinem Papa ist diese Straße nämlich benannt worden.

Aber auf jeden Fall dürft ihr nicht vergessen, was am 9. November 1938 passiert ist, damit so etwas Schlimmes nie wieder passiert. An der Vergangenheit könnt ihr nichts ändern. Aber die Zukunft, die könnt ihr gestalten! Es kommt auf euch an.

Eure Inge

verfasst von der Geschichtswerkstatt MWG

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